Von Abstand zu Achtsamkeit – mehr als eine Modeerscheinung

Mit den Abstandsregeln sind wir seit geraumer Zeit vertraut und hochgradig sensibilisiert. Noch bis vor kurzem haben wir uns wie selbstverständlich beim Begrüßen und Verabschieden die Hand gegeben oder uns umarmt. Diese Art von Nähe herzustellen war je nach Situation, Bekanntheitsgrad und Vertrautheit völlig normal, wird es wohl allerdings nicht mehr werden. Auf physischen Abstand zu anderen Menschen zu achten, hat derzeit hohe Priorität.

Ein Bereich, bei dem wir hingegen höchst selten auf Abstand achten, das sind unsere eigenen Gedanken. Dabei tut hier sorgfältiger Abstand durchaus gut. Wer kennt das nicht, die gedanklichen Mechanismen, die uns in alte Muster zurückfallen lassen? Unser gedanklicher Autopilot produziert permanent Impulse und Glaubenssätze, die unser Unterbewusstsein infiltrieren und wie ein trojanisches Pferd unser Denken, Fühlen und Verhalten bestimmen. Dabei lohnt es sich, mal auf Abstand zu gehen, in den Beobachterposten, um den Autopiloten bewusst zu durchbrechen.

Wie bewusst steuere ich meine Gedanken?

Wenn ich ganz bewusst meinem inneren Beobachter die Schleusen öffne, habe ich die Gelegenheit, zu prüfen, was „es“ gerade in mir denkt und die Gedanken mit mehr Achtsamkeit wahrzunehmen. Diese Art von Abstand gelingt manchem sehr gut mit Meditation. Wie vieles im Leben erfordert das etwas Übung und Disziplin, der Mehrwert sowohl im beruflichen als auch privaten Kontext ist jedoch enorm. Schließlich ermöglicht es mir, in vielen Situationen nicht nur bewusstere, sondern auch bessere Entscheidungen zu treffen.

Achtsamkeit war bei vielen bisher stark esoterisch besetzt, hatte den Ruch von Räucherstäbchen.  Mittlerweile ist das Thema in der breiteren Gesellschaft angekommen, Achtsamkeit gibt es schon länger als App. Für kleines Geld bekommt man auf dem Smartphone von einer sanften Stimme Anweisungen zu „Ankommen und Zentrieren“. Alternativ kann ich eine Vier-Minuten-Meditation wählen oder mich an Lebensweisheiten erbauen, die ich mir aufs Display schicken lasse. Praktisch portioniert für die Warteschlange im Supermarkt.

Modeerscheinung oder deutlich mehr dahinter?

Wurde hier ein neues Lieblingskonzept gefunden? Nach Yoga und Familienaufstellungen, zwischen Nachhaltigkeit und Wertschätzung? Der Joker Achtsamkeit verspricht Lebenshilfe, Heilkunst und spirituelle Sinnstiftung zugleich. Zeit für einen Selbsttest – mit oben erwähnter App.

„Es gibt viel zu tun. Fangen wir mit einer Pause an“ höre ich den Trainer, der dazu einlädt, noch einen Moment in der Stille zu bleiben. In unserer Gesellschaft, in der Multitasking und Reizüberflutung Standard geworden sind und jeder von früh bis spät To-do-Listen abarbeitet, wird es für Viele zunehmend schwerer, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Das wirkliche Abschalten, im wahrsten Sinne des Wortes, fällt uns schwer und das ohnehin schon hohe Stressempfinden wird noch potenziert durch den Druck, den wir uns selber machen.

Der große Vorteil von Achtsamkeit besteht in der Kernformel: „Es ist, wie es ist.“ Und eben nicht im Versuch, bewusst Änderungen herbeizuführen. Mit Übungen wie den „Bodyscan“ und anderen Meditationsformen wird das Bewusstsein trainiert, sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Die eigenen Gedanken und Gefühle ohne jegliche Bewertung zu akzeptieren. Schnell bin ich überzeugt: Wenn mir das gelingt, die eigenen Gedanken wie ein vorbeifahrendes Auto ziehen zu lassen, gewinne ich Selbstbestimmtheit, Gelassenheit und Souveränität.

Wie tauglich in der Praxis?

Mir gefällt auch der permanente Transfer in den Alltag, so dass mir „Achtsamkeit als Lebensstil“ auch nicht abgehoben scheint, denn schließlich kann ich mir das bei den unterschiedlichsten Tätigkeiten in Erinnerung rufen und üben. Und letztlich ist es reine Übungssache, den Strudel der Gedanken, die einen sonst in den Kopf schießen, zu stoppen.

Ich bin deshalb vom Nutzen des Ansatzes überzeugt, da sich Belastungen durch eine Veränderung der Geisteshaltung beeinflussen lassen. Achtsamkeit stärkt die Aufmerksamkeitsregulation, schärft das Bewusstsein für den eigenen Körper, verbessert die Emotionsregulation und verändert die Selbstwahrnehmung.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Meditation gemacht? Welche Gedanken erleben Sie als förderlich? Was hilft Ihnen, achtsam zu sein, sich zu erden und die Hoheit über Ihren „inneren Stammtisch“ zu behalten?