„Try to see it my way!”: Konfliktfähigkeit bringt uns weiter

„Das sehe ich aber völlig anders als Sie.“ Wer kennt das nicht, dass ein Gesprächspartner einen ganz anderen Blick auf die Situation und wenig Verständnis für eine andere Perspektive hat. Dass sich Ansichten vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehen, ist keine Besonderheit der Corona-Pandemie, auch der Präsidentenwahlkampf in den USA hat dieses Phänomen nicht exklusiv.

Manche Szene bei der ersten TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten 2020 erinnerte weniger an einen geistreichen Austausch von Argumenten und visionären Zukunftsszenarien, sondern eher an einen bockigen Vierjährigen im Sandkasten: „Der hat aber angefangen!“

Machtkampf oder Kultur des Gebens und Nehmens?

Aktuell bereichert der Machtkamp zwischen VW-Chef Diess und Betriebsratschef Bernd Osterloh über die Besetzung wichtiger Vorstandsposten die Gazetten. Der Streit über den Zuschnitt der Vorstandsressorts schließt an die Forderung des Vorstandsvorsitzenden an, das Tempo des Umbaus zu erhöhen und dabei profitabler zu werden. Das System VW zu verändern, in diesem Zusammenhang alte verkrustete Strukturen aufzubrechen und das Unternehmen moderner und agiler aufzustellen, hatte bei seiner Amtsübernahme vor fünf Jahren eine hohe Priorität gehabt.

Wie hilfreich sein Führungsstil, den Diess selbst als „gelegentlich konfrontativ“ bezeichnet, in dieser Unternehmenskultur sein wird, bleibt abzuwarten. Die Kultur des gegenseitigen Gebens und Nehmens, mit der bei Volkswagen der Interessensausgleich zwischen Betriebsräten, Eigentümerfamilien, dem Standort Niedersachsen und dem Vorstand gesucht wird, ist sicher sehr speziell und konfliktträchtig. Eine solche Kultur erfordert in einem besonderen Maß Konfliktfähigkeit, eine wichtige Kompetenz auch im Führungsalltag auf den unteren Ebenen.

Drei Ebenen der Konfliktfähigkeit

Was genau bedeutet Konfliktfähigkeit? Hier drei wesentliche Merkmale:

  1. Eigene Perspektive: Die Bereitschaft und Fähigkeit, eigene Ziele, Werte, Bewertungen, Vorstellungen, Wünsche, Motive, Bedürfnisse etc. zu äußern/einzubringen – auch auf die Gefahr hin, dass dies Spannungen mit dem Gesprächspartner erzeugt. Als Führungskraft habe ich den Anspruch und den Gestaltungswillen, der Entwicklung meines Verantwortungsbereiches auch meinen Daumenabdruck zu verleihen. Ich will gestalten statt lediglich verwalten, und die damit verbundenen „Einflugschneisen“ sind grundsätzlich auf höheren Ebenen etwas vielfältiger. Die integrale Führungskraft besitzt die Fähigkeit, sich auch abzugrenzen, Frustrationen zuzumuten, Absprachen einzuklagen und klare Regeln und Ansagen zu formulieren. Das allein reicht jedoch noch nicht.
  2. Perspektive des anderen: Die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf die Ziele, Werte, Bewertungen, Vorstellungen, Wünsche, Motive, Bedürfnisse etc. des Gesprächspartners einzulassen und sich damit auseinanderzusetzen – auch wenn dies bei einem selbst Spannungen erzeugt. Es braucht also auch die empathische Wertschätzung, das Element der mitmenschlichen Kontaktfähigkeit. Es setzt ein dialogisches Bewusstsein voraus: Man muss an einem gedeihlichen Miteinander interessiert sein und es zumindest für möglich halten, dass der andere recht haben könnte. Das erfordert viel Einfühlungsvermögen – eine Fähigkeit, über die Top-Manager nicht grundsätzlich in hohem Maß verfügen. Denn es kontrastiert zu sehr mit dem in diesen Gefilden weitverbreiteten Habitus des Machers.
  3. Lösungsinteresse: Die Fähigkeit und Bereitschaft, bestehende Spannungen (Konflikte) zu erkennen, anzusprechen und zu einem Ausgleich/einer Lösung zu bringen. Die Bereitschaft, den berühmten Schritt auf den anderen zuzugehen, sich auf ihn einzuschwingen, den kleinsten gemeinsamen Nenner auch bei extrem unterschiedlichen Positionen zu suchen. Und mehr noch, ihn als Ausgangspunkt für einen kreativen Befreiungsschlag zu nutzen. Je mehr ich auch emotional in die Auseinandersetzung verstrickt bin, desto schneller entsteht eine Kluft zwischen rationaler Einsicht und konkreter Umsetzung in der Praxis. Eine handfeste, umsetzbare Lösungsperspektive zu entwickeln, die im Idealfall kooperativ erarbeitet wird, setzt prinzipielle Wertschätzung voraus und die Bereitschaft, sich auf das Gegenüber auch einschwingen zu wollen.

Lernen von den Profis

Astronaut Alexander Gerst, der sich insgesamt 362 Tage im Weltall aufhielt und 2018 auch der erste deutsche ISS-Kommandant war, hat das Zusammensein mit anderen unter widrigen Bedingungen erlebt. Bedingungen, die außergewöhnliche psychische und physische Herausforderungen an die Mitglieder der Mission stellt. Wie geht so jemand mit Konflikten um? Was hat er gelernt, um die unvermeidlichen zwischenmenschlichen Krisen auf der Raumstation zu überwinden? „Am besten lässt man Krisen erst gar nicht aufkommen“, sagt er. „Wir müssen ständig in der Lage sein, uns in den anderen hineinzuversetzen und Dinge zu identifizieren, an denen man sich reiben kann. Wenn es mal Probleme gibt, ist Kommunikation der Schlüssel: offen reden, Kompromisse suchen, es auch mal gut sein lassen.“

Wirkt das nicht ziemlich profan? Alleine der gesunde Menschenverstand reicht demzufolge aus, um in solchen Extremsituationen zu bestehen? Doch Denk- und Einfühlungsvermögen, Urteilskraft, Haltung und ein moralischer Kompass sind nicht jedem gegeben, wie man bei aktuellen politischen Auseinandersetzungen und Amtsinhabern feststellen kann.

Umso bemerkenswerter dieser Impuls aus einer NDR-Doku über Robert Habeck und Annalena Baerbock. Im Interview mit Reinhold Beckmann ließen die beiden durchaus durchblicken, dass nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen herrscht. Zur Wahrheit gehöre auch, so Habeck, dass man natürlich manchmal gegenseitig genervt ist von der unterschiedlichen Herangehensweise und dem Tempo des anderen. Dennoch ist es den beiden ganz offensichtlich gelungen, die positiven Effekte ihrer Andersartigkeit zu nutzen und ihre Zusammenarbeit auch entsprechend „artgerecht“ anzulegen.

Ganz anders tickt dieser Teilnehmer eines Führungsworkshops. Er beschwerte sich kürzlich, dass ihm im Kollegenkreis Rechthaberei vorgeworfen werde. Absolut ungerecht, so seine emotionale Bestandsaufnahme. Schließlich sei es nun mal leider eine Tatsache, dass er immer recht habe.

Bei vielen Fragestellungen im Führungskontext gibt es nicht nur das Entweder-oder, sondern häufig auch das Sowohl-als auch, das Integrieren von Perspektiven, das Verschmelzen des Besten aus zwei Welten. Vergleichbar mit dem aus asiatischen Religionen entlehnten Yin und Yang, die polar aufeinander bezogen sind und sich dennoch ergänzen.

Vorteil oder Zeitverschwendung?

Bei einem Perspektivenwechsel versetzen Sie sich in die Lage einer anderen Person und versuchen die Situation durch die Augen des anderen zu betrachten. Ein solcher Wechsel des Blickwinkels ist allerdings alles andere als einfach. Schließlich kennen wir das aus unterschiedlichen Situationen, dass die Wahrnehmung eben nicht objektiv ist und der Mensch meist nur das sieht, was er sehen will. Wenn wir felsenfest von etwas überzeugt sind, neigen wir erst recht dazu, es nicht mehr zu hinterfragen.

Deshalb stellt sich mancher vielleicht die Frage nach der Sinnhaftigkeit, die eigene Perspektive einer kritisch-konstruktiven Prüfung zu unterziehen. Es fühlt sich überflüssig an – schließlich hat man sich doch seine Meinung erst nach reiflicher Überlegung geformt. So nachvollziehbar dieser Gedanke ist, ist er andererseits eben auch genau die Ursache des Problems: Wir wechseln zu selten unsere Perspektive. Dabei könnten wir viel Vorteile daraus schöpfen, auch mal aus dem Blickwinkel des anderen auf die Gegebenheiten zu schauen. Vielleicht stellen Sie auf diese Art und Weise fest, dass Ihr Gegenüber doch nicht so falsch lag mit seiner 91.