Mit Struktur und Leidenschaft: Was Weinbau mit Führung zu tun hat

Seit knapp fünf Jahren bin ich stolzer Besitzer eines kleinen Weinbergs in Franken. Für mich als Kopfarbeiter ein toller Ausgleich, zumal ich zum Jahresende ein konkretes Ergebnis sehe. Mit Neugier und Leidenschaft, wohl auch mit einer Prise Naivität widmete ich mich den Herausforderungen.

Den von Jeff Bezos so benannten „Day One Spirit“ habe ich am eigenen Leib erfahren: Viele Stunden Arbeit, begonnen in den Wintermonaten mit dem Rebschnitt, unterjähriges Pflegen und Hegen, Mähen mit der Motorsense, dann endlich die Ernte im Herbst. Es braucht viel Idealismus, denn verglichen mit den Stunden ist es ein recht teurer Tropfen.
Und doch möchte ich es nicht missen!

Führung im Weinberg?

Was mich am meisten verblüfft hat: Ich sehe erstaunliche Parallelen zu den Führungsaufgaben, die in meinem Tagesgeschäft ansonsten im Mittelpunkt stehen. Aufgaben, bei denen es darum geht, Fahrt aufzunehmen, die Weichen für die Zukunft erfolgreich zu stellen und auf „Kittelbrennfaktoren“ zu reagieren.

Und genau diese Leitlinien waren es, die mir halfen, die Arbeiten im Weinberg zu strukturieren und mich in diesem neuen Terrain zu orientieren. Also gehen wir die Winzerei mal als Managementaufgabe an und vergleichen sie mit Organisationsführung:

1. Organisieren und strukturieren

Im Weinberg: Wie teile ich mir die jeweiligen Arbeitsschritte ein? Angefangen von den Vorbereitungsarbeiten für die Neuanlagen im Wingert.

In der Organisation: Wie stellen wir uns auf? Wer kann wo seine Stärken am besten zur Entfaltung bringen? Wer berichtet wem in welcher Form? Welche Aufteilung macht bei Geschäftsfeldern und Einheiten Sinn? Welche wollen wir bewusst nicht mehr?

2. Ziele setzen und vereinbaren

Im Weinberg: Wie viele Augen lasse ich am Stock? Wie viel Ertrag strebe ich an und was mache ich damit? Der Rebschnitt ist eine der wichtigsten Qualitätseinstellungen. Hier lege ich den Grundstein, ob ich in eine Literflasche abfülle oder einen hochwertigen Boxbeutel für 15 Euro produziere.

In der Organisation: Was muss reingespielt werden, ab wann machen wir Gewinn? Womit setzen wir Anreize, was wirkt kontraproduktiv? Was wird vorgegeben, heruntergebrochen, wo bieten wir Gestaltungsspielräume?

3. Delegieren

Im Weinberg: Das Spritzen dient dem Pflanzenschutz. Die Rebstöcke haben viele natürliche Feinde, z.B. Bakterien, Pilze und Insekten. Gegen solche Krankheiten und Schädlinge gibt es chemische und biologische (organische) Pflanzenschutzmittel, meist in flüssiger Form. Da ich die hierfür notwendige IHK-Prüfung aus Zeitgründen nicht wahrnehmen konnte, habe ich diese Arbeiten delegiert.

In der Organisation: Was muss/soll/darf ich abgeben, um mich z.B. selbst neuen Gebieten zu widmen? Wie sorge ich dafür, dass ich nicht zum Flaschenhals für die Entwicklung Anderer werde? Auf welche Aufgaben und Projekte hätte jemand Lust, was würde ihn beflügeln (neudeutsch: Job Enrichment/Enlargement)?

4. Kontrollieren

Im Weinberg: Wie entwickeln sich die Trauben? Nach der Ernte gilt es auch die Hefen und die Temperaturen zu kontrollieren. Bereits ab der Gärung muss ich die Entwicklung von Aromatik und Struktur verfolgen. Im Februar, also nach dem Rebschnitt, muss der Winzer den Zustand der Drähte und Spaliere begutachten, den neuen Jahrgang schon im Blick.

In der Organisation: Wie behalte ich den Überblick und was verhilft mir zur erforderlichen Transparenz? Auf welche Kennzahlen muss ich tagesaktuell oder ggf. auch in Echtzeit Zugriff haben? Im Auto würde ich auch nicht losfahren, wenn das Licht nicht funktioniert oder die Ölkontrolle leuchtet

5. Fördern und entwickeln

Im Weinberg: Die Entwicklung der Vorjahres-Weine steht nun im Mittelpunkt. Bei der Begutachtung denkt der Winzer auch an mögliche Verschnitte, bei denen sich einzelne Tropfen gegenseitig ergänzen. Gerade bei der Komposition von Cuvées ist großes Geschick gefragt.

In der Organisation: Welche Mitarbeiter kann ich wie einen Schritt weiterbringen? Selbst Entscheidungen treffen und daraus lernen lassen? Wen kann ich aus seiner Komfortzone locken, wen muss ich ggf. vom Drei-Meter-Brett schubsen?

6. Entscheiden

Im Weinberg: Wie rigoros bin ich beim Selektionsschnitt? Wieviel Süßreserve, d. h. filtrierter Traubensaft, gebe ich zu? In einem bestimmten Zeitraum verkoste ich ggf. täglich, um den Zeitpunkt der perfekten Struktur und des gewünschten Aromas abzupassen.

In der Organisation: Welche Leitplanken setze ich? Wofür gibt es rote und gelbe Karten? Was ist überhaupt Trumpf und wie wollen wir das Spiel bestreiten? Wofür wollen wir stehen, was ist unsere DNA?

7. Informieren und kommunizieren

Im Weinberg: Als Winzer bin ich an einem regen Austausch mit Kellermeistern und befreundeten Kollegen interessiert. Kunden und Geschäftspartner zu Verkostungen einzuladen ist ebenso wichtig, um einen Vorgeschmack auf den neuen Jahrgang zu bieten.

In der Organisation: In welcher Frequenz besprechen wir was in welcher Form? Was kann per Mail, was muss am Telefon bzw. unter vier Augen oder in einem (Online-)Meeting vermittelt werden? Welche Art und welcher Stil werden vom Empfänger als angemessen und wertschätzend empfunden?

8. Nicht demotivieren

Im Weinberg: Aus Winzersicht haben Schädlinge ein hohes Frustpotenzial. Ich darf nicht nachlassen, sie zu bekämpfen. Was die Eigenmotivation betrifft, spricht der Wein für sich: Es ist einfach beeindruckend, dieses Produkt von A bis Z zu begleiten und die eigene Handschrift hineinzubringen.

In der Organisation: Wie können wir sicherstellen, dass die Motivation, mit der jeder Mitarbeiter beginnt, erhalten bleibt? Mit welchen gutgemeinten Aktionen laufen wir zumindest Gefahr, jemand vor den Kopf zu stoßen, zu irritieren? Was birgt Kollateralschäden? Wie gebe ich eine differenzierte Rückmeldung auf eine sozialverträgliche Art und Weise?

Meine Doppelrolle passt also perfekt zusammen. Ich begleite und unterstütze Führungskräfte, damit sie gemeinsam mit ihren Mitarbeitern den anstehenden Weg erfolgreich meistern. Und ich begleite und unterstütze die Natur im Weinberg, damit sich aus den Rebstöcken am Ende ein guter Tropfen entwickelt. Beides ist für mich extrem motivierend.