Führen wie ein Leuchtturm: „O Captain! My Captain!“

Die Schauspielerin Meret Becker beschrieb vor kurzem in einem Interview, wie ihr Stiefvater Otto Sander ihr die Liebe zu Gedichten vermittelte. Da sie für die Schule „Die Brücke am Tay“ auswendig lernen musste, fing er an, ihr Balladen vorzulesen. Dabei rief er z.B. plötzlich „Schnitt“ und erklärte, dies sei wie im Film sei und jetzt käme ein anderes Bild. So lernte das Kind, wie Gedichte funktionieren.

Mich hat diese Anekdote an den Englischlehrer John Keating im Film „Club der toten Dichter“ erinnert. Mit seiner Persönlichkeit und seinen ungewöhnlichen Lehrmethoden begeisterte er die Schüler für Lyrik, so dass sie zumindest gedanklich aus dem engen Regelwerk ihrer erzkonservativen Schule flüchten konnten. Als dem Lehrer der Jobverlust droht, solidarisieren sie sich, steigen auf die Tische und zitieren Walt Whitmans Gedicht „O Captain! My Captain“. Der Autor des Films brachte eigene Erfahrungen ein und beschrieb damit, wie prägend Lehrkräfte nicht nur für berufliche Laufbahnen, sondern für ganze Lebenswege sein können.

Leuchttürme für Lebenswege

Was machen Lehrkräfte, die solche einen bleibenden Eindruck hinterlassen, anders? Das Fachwissen selbst ist eher zweitrangig. Doch dem einen oder der anderen gelingt es, die Tür in eine vorher nicht attraktiv scheinende Welt zu öffnen und die Lust zu wecken, diese auch zu durchschreiten. Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, habe ich leider keinen „O Captain! My Captain!“-Moment mehr in Erinnerung. Stattdessen fällt mir auf, dass ich in den Fächern wirklich gut war, in welchen auch die Chemie zum Lehrer stimmte (im besagten Schulfach allerdings nicht). Im Idealfall gelingt es einem Lehrer oder demjenigen, der uns etwas vermittelt, Begeisterung in uns zu wecken. Eine Flamme zu entzünden.

Letztlich basiert ja alles Lernen darauf, sich an Informationen und Impulse erinnern zu können. Erstaunlich, dass Schülern es schwerfällt, sich historische Daten, Formeln etc. zu merken, sie jedoch keinerlei Schwierigkeiten haben, Hunderte von Liedtexten oder immense Daten von Sportereignissen zu rekapitulieren. Offensichtlich ist das schlechte Gedächtnis keine Frage der Fähigkeit, sondern des nicht geweckten Interesses.

Der britische Erziehungswissenschaftler Ken Robinson ist z. B. jemand, der eine Flamme entfachen kann. Seine Videos auf Youtube haben eine extreme Popularität. Bei den „TED Talks“ war er lange unangefochtener Spitzenreiter, indem er auf irritierend amüsante Weise beschrieb, wie die Schule die Kreativität der Kinder vernichtet. Eine für mich tolle Mischung aus fachlicher Überzeugung und Entertainer-Qualitäten, welche alleine Lust am Lernen weckt.

Lernen durch Vorbilder

Ein Teilnehmer eines Führungskräfteentwicklungsprogrammes erzählte mir, dass er das Thema Führung vor Jahren nicht wirklich „auf dem Schirm hatte“ und die im Konzern ebenfalls gleichwertig angebotene Fachlaufbahn bevorzugte. Doch dann bekam er durch den Führungsstil seiner Chefin Lust und entdeckte bei der Übernahme von Verantwortung in Projekten die Freude am Führen, die für eine gute Leistung immer eine unerlässliche Komponente darstellt. Für mich war das ein großes Kompliment für seine Führungskraft und außerdem ein Beleg, dass gute Führungskräfte auch selbst Führungskräfte entwickeln.

Viele Führungskräfte stellen immer wieder fest, dass sie nicht genügend MitarbeiterInnen haben, die bereit sind, auch wirklich Verantwortung zu übernehmen. Da liegt der Gedanke nahe, ob und inwieweit die Attraktivität des Führens denn vorgelebt und vermittelt wird. Erleben die MitarbeiterInnen das als augenscheinliche Last? Oder erfahren sie auch die Lust, die gute Führungskräfte erleben?

Erfolgsfaktoren von Lehrern und Führungskräften

Ich wollte mehr dazu herausfinden und habe eine spontane Meinungsumfrage in der Nachbarschaft und dem familiären Umfeld durchgeführt: Was lässt Lehr- und Führungskräfte gleichermaßen erfolgreich sein? Die Antworten waren wie folgt:

  • „Sind inspirierend, können gut erklären und spannend erzählen. Im wesentlichen genügt auch bei komplexeren Situationen und Transformationsprozessen eine nüchterne Bestandsaufnahme des Status Quo, eine Vision des wünschenswerten Zustands und eine bildhafte Reise, wie sie zum Ziel kommen möchten, mit den entsprechenden Veränderungen und Maßnahmen.“
  • „Sind ein Vorbild an Neugier und wecken die Kreativität. Neben der Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen ist für mich auch die Fähigkeit, neue Ideen zu generieren, aktuell wichtiger denn je. Führungskräfte muss es heute in einem besonderen Maß gelingen, ihre MitarbeiterInnen zu inspirieren und für neue Ansätze zu begeistern, indem sie Bedingungen kreieren, in denen sie sich ausprobieren, ihre Erfahrungen teilen und daraus lernen können und wollen. Das Interesse an technischen Entwicklungen und neuen Methoden muss ich als Führungskraft auch vorleben und in vielen Disziplinen kommt der Appetit erst während dem Essen.“
  • „Sind gerecht. Was impliziert, dass er unter Umständen auch streng sein kann bzw. sein muss, z.B. im Umgang mit Minderleistern, die sich in den Augen der KollegInnen auf ihren Rücken mit dem Engagement etwas zurückhalten. Im Kern besteht der Zweck der Erziehung darin, die Schüler für die Zeit nach der Schule vorzubereiten, d.h. die mentalen, emotionalen, sozialen und strategischen Fähigkeiten zu vermitteln, um Herausforderungen konstruktiv anzugehen und mit Unsicherheit und Komplexität zurechtzukommen. Gleiches gilt meines Erachtens auch für Führungskräfte, die im günstigsten Fall Leuchtturmcharakter haben.“
  • „Sind Chef im Ring, ohne es immer zeigen zu müssen. Hat Autorität, strahlt diese aus, ohne jedoch autoritär sein zu müssen und findet ein nachvollziehbares Maß im Umgang mit Kontrolle und Freiheitsgraden, was auch im aktuellen Kontext neu austariert werden muss. Wie ein guter Lehrer baut eine gute Führungskraft keinen unnötigen Druck auf, sondern passt den eigenen Stil dem Energielevel und den Bedürfnissen der Mitarbeiter an. Das Erfolgsrezept, dem Nachtisch auch etwas Gemüse beizumischen, hat sich im schulischen Kontext schon häufig bewährt. Auch Führungskräfte hatten in diesem Jahr mitunter eine steile Lernkurve. Mit dem ein oder anderen Problem, das sie bisher nur in Workshops besprochen hatten, mussten sie sich pragmatisch auseinandersetzen. Im Mittelpunkt stand häufig auch der Vertrauensvorschuss in einer totalen Ausnahmesituation.“

Für mich sind das sehr offensichtliche Parallelen zur Realität von Führungskräften. Die Antworten auf die in Seminaren schon häufig gestellte Frage, was denn eine gute Führungskraft auszeichne, decken die gleichen Aspekte ab, lediglich in einem etwas anderen Gewand.