Bella figura! Im Verlieren gewinnen

Lewis Hamilton hat also seinen 7. Titel geholt und Michael Schumachers Rekord eingestellt. Eine Überraschung war das nicht, nur noch eine Frage der Zeit. Nicht zu erwarten war, dass Sebastian Vettel wieder einmal einen Podestplatz ergatterte, durch ein Überholmanöver gegen seinen Teamkollegen auf den letzten Kurven. Vettels erster Podiumsplatz in der gesamten Saison und der erste seit Oktober 2019, als er in Mexiko Zweiter wurde. Eine gefühlte Ewigkeit und nach einer, vorsichtig formuliert, sehr durchwachsenen Saison, für ihn selbst wie auch für Ferrari und seine vielen Fans.

Das Interesse an der Formel 1 ist auch bei mir etwas erkaltet, nachdem die Erfolge der Mercedes-Piloten doch zu dominant erscheinen. Imponiert hat mir jedoch Vettels Reaktion als sehr fairer Sportsmann, der aufgrund der Entwicklung in seinem letzten Ferrari-Jahr als Verlierer der Saison gelten muss. Aus seinem Boliden gestiegen, marschierte er, ohne den eigenen Erfolg großartig zu bejubeln, direkt zu Hamilton, um ihm zu dessen außergewöhnlicher Leistung zu gratulieren.

Duplizität der Ereignisse

Auch bei Hamiltons vorausgegangenen WM-Titeln war Vettel einer der ersten Gratulanten und brach 2018 dafür sogar ein Interview ab, obwohl er selbst gerade als schärfster Konkurrent die WM verloren hatte. Ein ähnliches Szenario bot sich 2019, als sein Wagen im Rennen ausgefallen war und Vettel seinem langjährigen Rivalen im Warteraum vor der Siegerehrung gratulierte.

Mensch und Technik – beides birgt doch noch Überraschungen

Obwohl bei der Formel 1 normalerweise nichts dem Zufall überlassen wird, wurde das ganze Rennwochenende von Reifenproblemen geprägt. Mancher Reifenhersteller hatte nicht damit gerechnet, dass der Asphalt in Istanbul erneuert wird, so dass die Reifenmischungen zu hart waren. Bei kaltem, nassem Wetter waren zahllose Dreher die Folge, teilweise bereits vor der Einführungsrunde.

Wie frustrierend muss das sein, wenn ich als Fahrer top-vorbereitet bin, das ganze Team über Tage oder Wochen versucht hat, sämtliche Fragezeichen zu eliminieren – und auf einmal entscheidet so eine Randnotiz über Sieg oder Niederlage, über Podiumsplatz oder Ausscheiden.

Anstand, Stil und gute Verlierer sieht man 2020 ja nicht überall – wie sich derzeit wieder in der US-amerikanischen Politik beobachten lässt. Auch nach mehreren Wochen erscheint ein geregelter Übergang des Präsidentschaftsamtes noch in weiter Ferne. Der Amtsinhaber klagt, droht und gebärdet sich als Rumpelstilzchen. Im Idealfall gelingt es den Siegern, einen gesichtswahrenden Abgang zu ermöglichen. Es bleibt unterhaltsam.

Gewinnermentalität beinhaltet auch das Verlieren können

Der Begriff der Frustrationstoleranz wurde 1938 vom amerikanischen Psychoanalytiker Saul Rosenzweig geprägt. Er bezeichnete damit die Fähigkeit, Frustration über eine längere Periode auszuhalten und konstruktiv damit umzugehen, ohne die objektiven Faktoren der Situation zu verzerren. Wer lernt, mit Misserfolgen klarzukommen, ist besser für das Leben gewappnet, gibt nicht gleich auf, fokussiert sich auf seine Ziele und reagiert weniger aggressiv auf Widerstände.

Offensichtlich will das Verlieren genauso gelernt sein wie das Gewinnen. Menschen mit einem geringen Selbstwert suchen die Schuld bei sich und verfügen nicht über die erforderliche Ich-Stärke, um den Widrigkeiten des Lebens zu begegnen. Menschen mit gesteigertem Selbstwert wiederum suchen die Schuld in den äußeren Umständen, also eher selten bei sich selbst. In Teilen ist dieses Verhalten also durchaus gesund, wenn ich nagende Selbstzweifel nicht an mich heranlasse. Zu viel davon kann allerdings zu ausgeprägter Realitätsverweigerung führen, wie aktuelle Beispiele der Weltpolitik zeigen.

Frustration in der Führung

Im Führungsalltag bin ich ebenfalls häufig gefordert, mit Enttäuschungen konstruktiv umzugehen, mich durch Misserfolge nicht entmutigen zu lassen und notwendige Dinge zu Ende zu führen, auch wenn diese nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig sind. Stark wird der, wer es schafft, trotz Rückschlägen und Frustration zielorientiert weiterzuarbeiten, aus Misserfolgen zu lernen und die daraus resultierenden Erfahrungen für sein zukünftiges Verhalten zu nutzen.

Gerade aktuell hat dies Kompetenz einen sehr hohen Stellenwert. Es gilt, notwendige Aufgaben auch dann noch gut zu erfüllen, wenn sie durch Enttäuschungen und Misserfolge vielleicht sogar belastend geworden sind. Das ist sicher leichter gesagt als getan – aber auch diesbezüglich kommt Führungskräften und ihrer Vorbildfunktion eine hohe Bedeutung zu.