Werde zum Glasbläser: Erfahrung, Können, Bauchgefühl im Team

Es war bei einem Kunsthandwerkermarkt in Sommerhausen, als mich ein Glasbläser in seinen Bann zog. Vor den Augen des Publikums formte er Figuren, die er anschließend zum Verkauf anbot.

Als wir in einer Pause ins Gespräch kamen, erzählte er mir von der großen Kunst der Glasmacherei, dem Herstellen von Dekantern und gab mir einen Tipp, wo ich die Produktion live verfolgen könne.

Tante Paula lässt grüßen

Wenn man der Produktion eines Dekanters Schritt für Schritt folgt, stellt sich sehr schnell die Frage, wie die Glasmacher ihr Wissen denn weitergeben. Mit welchen Beschreibungen und konkreten Hinweisen lässt sich das denn übertragen? Ich erinnerte mich an Tante Paula, die beim Kochen und Backen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung kaum noch etwas abwog, sondern die Zutaten überwiegend nach Gefühl mischte. Genauso wenig wird bei den Glasmachern etwas gemessen oder gewogen, und auf eine Bedienungsanleitung oder ein Rezept kann auch niemand zurückgreifen.

Fingerspitzengefühl und Erfahrung braucht schon der Schöpfer, der mit seiner Glasmacherpfeife, die aussieht wie eine geradlinige Fanfare, die Zutat aus der Schmelze des sogenannten Hafenofens nimmt. Außer den Händen und Augen keine Messgeräte, mit denen die Glasmasse überprüft werden könnte.

System, Struktur oder „frei Schnauze“?

Lange dürfte so ein Messvorgang ohnehin nicht dauern. Denn sobald das zähflüssige Glas aus dem Hafen genommen wird, muss es durch Rotation in Bewegung gehalten werden, weil die Schwerkraft es nach unten zieht. Wie Honig auf einem Löffel, der nur durch ständiges Drehen den Tisch nicht betropft.

Wenn der Schöpfer die Kelle mit dem flüssigen Glas übergibt, wird diese noch einmal erwärmt. Dann hat das Glas genau die Temperatur erreicht, um einen Dekanter formen zu können. Je nach Modell steht schon ein zweiter Glasbläser bereit, der die Lochschere greift, in welche das dünne Ende eingeklemmt wird. Um eine U-Form entstehen zu lassen, werden die beiden Enden auseinandergezogen.

Individuelles Können UND Teamarbeit

In diesem Moment spätestens kommt die Teamarbeit zum Tragen. Zwei weitere Glasbläser sind gefordert, um ergänzend zum U noch ein O zu formen. Einer hält das Ende fest, einer dreht an der Form, und der dritte Mann kühlt das Glas an den gebogenen Stellen vorsichtig herunter, damit diese nicht mehr nachgeben und der Dekanter seine Form behält. Mit einem Stab wird nachjustiert und der Dekanter hat bereits fast seine endgültige Form erreicht.

Erklären kann ein Glasbläsermeister dieses Wissen, diese Methoden ebenso wenig wie Dirk Nowitzki seine Würfe aus der Distanz oder Robert Lewandowski seine regelmäßigen Treffer in den Winkel. Reine Gefühlssache, entstanden aus jahrelanger Erfahrung. Der Glasmacher hat einstudierte Handbewegungen und eine individuelle Handschrift, mit der er aus einem zähen Stück Glas ein Unikat formt.

Die letzten Schritte erscheinen einfach. Der Glasbläser setzt den fast fertigen Dekanter auf eine heiße Platte, so dass ein Boden entsteht, indem das Glas an dieser Stelle plattgedrückt wird. Er hält ihn zur Kontrolle in die Luft, dann kürzt ein anderer Glasmacher das dünne Ende, indem er die Pfeife einfach abschlägt.

Für mich ein faszinierendes Beispiel von in langjähriger Erfahrung gesammelter Handwerkskunst und perfekter Abstimmung im Team, in dem alles aufeinander abgestimmt sein muss. Dass dies auch – oder gerade – ohne exakte Anleitung bestens funktionieren kann, macht doch Mut für den Führungsalltag, oder?