Alles in Balance? Wie wir mit unserem Zeitbudget besser umgehen können
Vor allem geht es darum, die richtige Balance hinzubekommen, damit wir mit unseren Aktivitäten nicht einseitig belastet sind und anderes zu kurz kommt. Viele sprechen in diesem Zusammenhang von Work-Life-Balance – dazu später mehr.
Gutes Zeitmanagement als Voraussetzung für Balance
Bei vielen Coachings fällt mir auf, dass das Führungskräfte aktuell stark beschäftigt: Wie hoch sind die Investitionskosten (Zeit, Energie, Geld) und Opportunitätskosten (entgangene Optionen, Kollateralschäden) des eigenen Lebenszeitbudgets? Und was ist der Nutzen in Form von z. B. Lebensglück? Mancher stellt fest, dass dieses Preis-Leistungs-Verhältnis auf der vorherigen Position durchaus attraktiver gewesen ist und er fragt sich, wie er das auch nach einem Karriereschritt wieder vorteilhafter für sich gestalten könnte.
Ein Schlüssel liegt im guten Zeitmanagement. Doch manchmal agieren wir dabei wie Wissensriesen und Umsetzungszwerge. Denn gewisse Prioritäten, die den Fokus auf eine hohe Selbstfürsorge legen, brauchen Mut. Was sich schon daran ablesen lässt, dass Selbstfürsorge leicht als Egoismus ausgelegt wird. Das schafft nicht jeder. „Wenn ich schon so viel Zeit und Energie in das berufliche Fortkommen stecke,“ denkt so mancher, „muss ich die restliche Zeit komplett für die Familie verfügbar sein.“ Dass die eigenen Bedürfnisse dabei unter die Räder kommen, sieht ein Coach oft schneller als der Betroffene selbst.
Ein britischer Premier meinte einst, er hätte sein Amt so organisiert, dass es ihn möglichst wenig beim Segeln stört. Und Campino, Frontmann der Toten Hosen, blockiert in seinem Kalender zuallererst sämtliche Zeitfenster rund um die Spiele seines geliebten FC Liverpool. Was vielleicht schrullig wirkt, ist genau das: Selbstfürsorge. Was ist mir persönlich wichtig und wo kann ich meinen Akku wieder aufladen?
Warum Work-Life-Balance der falsche Begriff ist
Um in der Balance zu sein, muss ich nicht unbedingt das Berufliche mit dem Privaten aufwiegen. Vielmehr geht es darum, was mich wirklich erfüllt. Beispielhaft sei hier auf ein Wissenschaftler-Ehepaar verwiesen, das in den letzten Monaten große Bekanntheit erlangt hat: Özlem Türeci und Ugur Sahin, die Gründer des Impfstoffentwicklers Biontech. Ihr einzigartiges forscherisches Engagement gipfelte 2020 in der Entwicklung eines hochwirksamen Impfstoffs gegen Covid-19, basierend auf einem innovativen Verfahren.
Ihr ursprünglicher Antrieb war die Suche nach wirksamen Krebstherapien. Die Forscher aus Leidenschaft lernten sich bei der gemeinsamen Arbeit am Universitätsklinikum Homburg kennen und heirateten 2002. Es heißt, Sahin sei noch am Tag der Hochzeit ins Labor zurückgekehrt. Die Krebsforschung hat eben für beide einen extrem hohen Stellenwert und wird von beiden als sehr erfüllend erlebt. Man hat nicht den Eindruck, dass die 7-Tage-Woche sie sonderlich belastet.
Eine so enge Verbindung zwischen privater Beziehung und Geschäftspartnerschaft mag andere schrecken, Türeci und Sahin scheint die Verbindung zu inspirieren und zu unglaublichen Erfolgen zu führen. Auch andere Paare haben beruflich gemeinsam Großartiges erreicht: Carl und Bertha Benz, Marie und Pierre Curie, Esther Duflo und ihr Ehemann Abhijit Banerjee, Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2020.
Heute sind wir auf dem Weg zu New Work, und gerade die jüngere Generation beschäftigt sich sehr stark mit der Frage, wie sich berufliches Engagement mit einer Familie vereinbaren lässt. Beispielsweise träumten Ärzte früher von der eigenen Praxis, finden es heute jedoch kaum noch attraktiv, mit wenig Freiraum für Familienzeit auf Jahrzehnte daran gebunden zu sein. Ich plädiere hier für mehr Kreativität und alternative Arbeitszeitmodelle – und weniger Konfrontation zwischen Beruf und Privatleben.
Was gehört wirklich zur guten Balance?
Der Naturforscher Justus von Liebig entdeckte, dass eine Pflanze vier Elemente zum Wachstum benötigt. Fehlt nur eines, wächst sie nicht weiter – selbst dann nicht, wenn alle anderen Faktoren im Überfluss vorhanden sind. Erst wenn man das fehlende Element wieder zuführt, wächst die Pflanze.
Alles im Überfluss geht jedoch auch schief, so steht es schon am Tempel von Delphi. Zu viel ist immer zu viel. Die einseitige chronische Überbetonung eines Lebensbereiches führt zwangsläufig zu Problemen in anderen, ebenso wichtigen Lebensbereichen. Bei Sportlern spricht man von einem „open window“-Effekt; einem Zeitfenster, in dem man anfälliger ist für Infekte. Ähnlich ist es auch in unseren zentralen Lebensbereichen, wenngleich, wie das Beispiel der Biontech-Gründer zeigt, sich die Dosis sehr stark unterscheiden kann, die normalerweise zwischen Gift und Heilmittel trennt.
Halten Sie doch mal kurz inne und machen Sie eine Bestandsaufnahme Ihrer Lebensbereiche: Wie zufrieden sind Sie aktuell damit? Das kann nur eine Momentaufnahme sein, nichts Statisches. Trotzdem ist es aufschlussreich, mal so eine Standortbestimmung vorzunehmen, etwa wie ein Skipper an Bord einer Segelyacht. Längen- und Breitengrad reichen nicht, er muss auch andere Faktoren analysieren: Wie hoch ist der Wellengang? Aus welcher Richtung kommt der Wind und wie stark ist er? Gibt es eine Sturmwarnung? Dann kann er den geeigneten Hafen festlegen. Ähnlich können wir es mit unseren Zielen machen, um den Kurs wieder in Balance zu bringen und unser Zeitbudget sinnvoller aufzuteilen. Viel Erfolg damit!